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Das Kita-System steht vor dem Kollaps – über 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fordern die Politik zum schnellen Handeln auf

Kitas in der Krise / "Kita-Kollaps" - Hunderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzen sich für die Rechte und Grundbedürfnisse von Kindern ein: Forschende deutschlandweit aus dem Bereich der Frühkindlichen Bildung/Kindheitspädagogik/Bildung und Erziehung im Kindesalter appellieren erneut gegen die Lockerung der Qualitätsstandards in der Kinderbetreuung. Auch Expertinnen und Experten der EVHN beziehen Stellung und fordern die Politik zum schnellen Handeln auf.

Der Appell

Es gibt deutliche und vermehrte Anzeichen, dass das System der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE) stark belastet ist. Den pädagogischen Fachkräften gelingt es trotz unermüdlicher Anstrengungen kaum mehr, ihre pädagogische Arbeit qualitätsgerecht zum Wohl der Kinder und ihrer Entwicklung auszuüben und dabei konstruktiv und vielfaltssensibel mit den Familien zusammenzuarbeiten.

Schon vor der Corona-Pandemie reichten die Ressourcen zur Bewältigung der vielfältigen und gestiegenen Anforderungen im Kita-System oftmals nicht aus. Der vielfach prognostizierte Fachkräftemangel hat die Belastungen bereits spürbar erhöht. Die schon länger bestehende Disbalance zwischen den gestiegenen Anforderungen an die pädagogischen Fachkräfte und Institutionen der Kindertagesbetreuung einerseits und den vorhandenen Ressourcen im System andererseits hat sich deutlich verschärft; es zeigen sich deutliche Folgen:

  • Die Zahl der psychisch belasteten Kinder erhöhte sich durch die Corona-Pandemie von 20% auf 30% (Ravens-Sieberer et al., 2022).
  • Es gibt sehr klare Hinweis auf erhöhte Spannungen in Familien und einen Anstieg häuslicher/familiärer Gewalt (z.B. Steinert & Ebert, 2021).
  • Der Fachkräftemangel hat sich drastisch verschärft. Es fehlen nach konservativen Schätzungen – insbesondere in den westlichen Bundesländern – bis zum Jahr 2025 179.000 ausgebildete pädagogische Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen (Forschungsverbund DJI/TU Dortmund, 2020; Bertelsmann Stiftung, 2021).
  •  Als deutlichstes Anzeichen für die Belastung der pädagogischen Fachkräfte ist seit mehreren Jahren ein – im Vergleich mit anderen Berufsgruppen sehr hoher – Krankenstand aufgrund psychischer Erkrankungen (v.a. Burnout und Depression) zu verzeichnen (z.B. Trauernicht, Besser & Anders, 2022; Barmer, 2021; Techniker Krankenkasse, 2015).

Angesichts dieser Entwicklung befürchten wir aus fachlich-wissenschaftlicher Sicht eine Beschleunigung der Abwärtsspirale der Qualität und einen Kollaps des Systems der FBBE. Wir sehen die Gefahr, dass die Kindertageseinrichtungen von Lern- und Lebensorten für Kinder und Familien wieder zu reinen Aufbewahrungsstätten werden.
Diese Situation widerspricht elementar den Rechten und Grundbedürfnissen von Kindern: Kinder brauchen stabile Bezugspersonen, die im pädagogischen Bereich qualifiziert sind und passgenau auf die individuellen Entwicklungsbedürfnisse und -bedarfe, auf die Bildungsthemen und Interessen von Kindern eingehen können. Dies ist in der gegebenen Mangelsituation immer weniger zu gewährleisten (z.B. Paritätischer Gesamtverband, 2022).

Daher fordern wir Politiker*innen und Verwaltungen auf allen Ebenen – vom Bund über die Länder bis zu den Kommunen – auf, deutlich verbesserte finanzielle und fachliche Anstrengungen zu unternehmen, um die Ressourcen des Systems zu stärken. Dies bedeutet:

Kurzfristig

  • Die Einschränkung von Öffnungszeiten und/oder vorübergehender Schließungen ohne finanzielle Restriktionen muss auf unkomplizierte Weise ermöglicht werden, wenn die Einhaltung der Mindestpersonalschlüssel nicht gewährleistet ist.
  • Pädagogische Fachkräfte müssen von Verwaltungs- und hauswirtschaftlichen Aufgaben durch Assistenz- und Verwaltungskräfte entlastet werden.
  • Es muss eine schnelle De-Bürokratisierung von Genehmigungs-, Abrechnungs- und Antragsverfahren erfolgen, die Leitungen und Fachkräfte übermäßig belasten und unnötigerweise pädagogisch notwendige Kapazitäten binden.
  • Bei der Einstellung von nicht einschlägig ausgebildeten Personen muss deren Weiterqualifizierung zur pädagogischen Fachkraft gesichert sein. Zudem müssen zusätzliche Kapazitäten zur Einarbeitung und Anleitung geschaffen werden, da ansonsten die Belastungen der Fachkräfte weiter steigen.
  •  Es ist eine pragmatische Aufgabenfokussierung auf pädagogisches Handeln zum Wohle der Kinder und zu ihrer Förderung erforderlich.

Mittel- und langfristig ist es unbedingt notwendig

  • die Ausbildungskapazitäten deutlich zu erhöhen, bewährte Modelle wie die bezahlten praxisintegrierten Ausbildungen auszubauen sowie flächendeckend Anerkennungen für Personen mit ausländischen Qualifikationen aus dem pädagogischen Feld zu ermöglichen,
  • die Kapazitäten in den Studiengängen BA Kindheitspädagogik deutlich zu erweitern
  •  die Fachkraft-Kind-Relationen substanziell zu verbessern, um die vielfach wissenschaftlich formulierten Standards zu erfüllen (im Bereich der Kinder unter drei Jahren maximal 1: 3, über drei Jahren 1:5 bis 1:7).
  • in den Teams ausreichende Vertretungskapazitäten (z.B. durch feste Vertretungskräfte bzw. „Springer*innen“) zusätzlich zur Verfügung zu stellen, um pädagogische Qualität zu garantieren und Fehlzeiten (durch Krankheit, Fortbildungen) besser kompensieren zu können,
  • das Positions- und Entlohnungsgefüge in den Kitas weiter zu entwickeln, um langfristige Entwicklungsperspektiven für Fachkräfte zu bieten, die ansonsten das Arbeitsfeld wieder verlassen,
  • die Zeiten für mittelbare pädagogische Tätigkeiten in ausreichendem Maße (mindestens 20% der Arbeitszeit) festzuschreiben und die Gewährleistung durch entsprechende Personaleinstellungen zu garantieren,
  • die Leitungskapazitäten sowie Unterstützungssysteme (Fachberatung, Teamentwicklungsprozesse, Supervision, Fort-/Weiterbildung) substantiell auszubauen,
  • partizipative Qualitätsmanagementsysteme und systematische Formen der Organisationsentwicklungsprozesse zu etablieren, die in den Einrichtungen die Berücksichtigung der Rechte und Interessen von Kindern und die Beteiligungsmöglichkeiten von Eltern/Familien absichern.

Das „Gute-Kita-Gesetz“ (KiQuTG) muss im Sinne eines Bundes-Qualitätsgesetzes mit erweiterten finanziellen Ressourcen ebenso weiter geführt werden wie die positiv evaluierten Initiativen der Bundesregierung („Fachkräfteoffensive“, Sprachförderprogramm „Sprach- Kitas“). Die Entscheidung, die „Sprach-Kitas“-Förderung in das Bundesqualitätsprogramm zu integrieren, muss mit der Sicherung und Verlagerung der entsprechenden Finanzmittel verbunden werden.

Um den drohenden Zusammenbruch des Systems abzuwenden, sind jetzt erhebliche Investitionen und mittelfristig eine kontinuierliche Erhöhung der Ressourcen für das System der FBBE nötig. Entsprechende Entscheidungen zuungunsten anderer Politikfelder erfordern kurzfristig Mut. Die Folgen einer weiteren Destabilisierung des Kita-Systems würden allerdings perspektivisch ungleich gravierender sein und erhebliche Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft nach sich ziehen.

 

Zitierte Literatur
Forschungsverbund DJI/TU Dortmund (2020). Plätze. Personal. Finanzen. Bedarfsorientierte Vorausberechnungen für die Kindertages- und Grundschulbetreuung bis 2030. Teil 1: Kinder vor dem Schuleintritt. Online verfügbar: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/dasdji/presseinformationen/202…
Barmer (2021). Barmer Gesundheitsreport 2021. Online verfügbar: https://www.barmer.de/resource/blob/1032110/aaafa3405427f0b05d34a7f20fd…
Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.)(2021). Fachkräfte-Radar für KiTa und Grundschule. Online verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/fa….
Paritätischer Gesamtverband (2022). Kita-Bericht 2022. Online verfügbar unter: https://www.der-paritaetische.de/fileadmin/user_upload/broschuere_kitab…
Ravens-Sieberer U., Kaman A., Devine J., Löffler C., Reiß F., Napp A.-K., Gilbert M., Naderi, H., Hurrelmann, K., Schlack, R., Hölling, H. & Erhart, M. (2022). Seelische Gesundheit und Gesundheitsverhalten von Kindern und Eltern während der COVID-19-Pandemie - Ergebnisse der COPSY-Längsschnittstudie [The mental health and health-related behavior of children and parents during the COVID-19 pandemic: findings of the longitudinal COPSY study]. Deutsches Ärzteblatt International; 119. https://doi.org//10.3238/arztebl.m2022.0173
Steinert, J. & Ebert, C. (2021). Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschlandwährend Covid-19-bedingten Ausgangsbeschränkungen: Zusammenfassung der Ergebnisse. TU München und RWI. Zusammenfassung unter: https://www.kriminalpraevention.de/files/DFK/Praevention%20haeuslicher%….
Techniker Krankenkasse (Hrsg.). (2015). Depressionsatlas. Arbeitsunfähigkeit und Arzneiverordnung. Hamburg: TKK.
Trauernicht, M., Besser, N. & Anders, Y. (2022). Burnout in der Kita und der Zusammenhang zu Aspekten der Arbeitszufriedenheit. Frühe Bildung, 11(2), 85-93.

 

Koordination des Appells

Prof. Dr. Klaus Fröhlich-Gildhoff, Zentrum für Kinder- und Jugendforschung an der Evangelischen Hochschule Freiburg, Bugginger Str. 38, 79114 Freiburg. Tel: 01778126700, Email: froehlich-gildhoff @ eh-freiburg.de

Der Appell ging an die Bundes- und Länderministerien (Familie/Soziales, Bildung) sowie aN die kommunalen Spitzenverbände verschickt worden; am 6.9.22 wurde der Appell an die Presse geschickt.

 

Der Appell als pdf-Dokument inklusiver aller Unterzeichner und Unterzeichnerinnen (pdf)